Legal heisst nicht legitim
Erschienen in: Neue Züricher Zeitung 5. März 2002 Nr. 53.

Eine Entgegnung 
Von Guido Palazzo* 

Von Abzockern und Absahnern ist in diesen Tagen viel die Rede. Der Boulevard schiesst sich ein auf Percy Barnevik. Dass die Sache in Wahrheit viel differenzierter betrachtet werden muss, machte der Beitrag mit dem Titel «ABB und die Moral von der Geschichte» in dieser Zeitung (vgl. NZZ vom 23. 2. 02) deutlich: Es handelt sich bei den 148 Mio. Fr. wohl zu einem gewichtigen Teil um das angesparte Einkommen Barneviks, das nach durchaus üblichen Usancen von ABB im Verhältnis 1:1 ergänzt wurde. Nur: Diese Begründung kann zur Beruhigung der öffentlichen Empörung wenig beitragen. Höhe und der Zeitpunkt der Zahlung sorgen für Unmut. In Schweden rechnet man Barnevik bereits vor, wie viele Stellen man bei ABB im Werk Västeras mit diesem Geld hätte retten können. Wenn die Krise der ABB auch hierzulande zu Entlassungen führen sollte, wird man diese Rechnung sicherlich erneut aufmachen.

Wachsender Legitimationsdruck 
Viele Unternehmen haben die veränderten Rahmenbedingungen, unter denen sie agieren, noch gar nicht begriffen. Die heftigen Diskussionen um die Abgangsentschädigung Barneviks machen dies wieder einmal sehr deutlich. Das Vertrauen der Bürger in die Unternehmen schwindet. Deren Tun wird heute misstrauischer beobachtet. Die «Global Players» trifft dieses Misstrauen in besonderem Mass, glaubt man doch, im Zug der Globalisierung eine bedenkliche Machtverschiebung von den politischen zu den wirtschaftlichen Akteuren feststellen zu können. «Transnationale Piraten» nennt der renommierte Soziologe Ulrich Beck die grossen Konzerne. Die Gewalt gegen das WEF in Davos oder die G-8- Gipfel ernährt sich auch aus der wachsenden Wut gegen die angebliche oder tatsächliche Macht der Konzerne. Der Legitimationsdruck wächst. Manches Unternehmen hat die Verschiebung in den externen Ansprüchen bereits erkannt. Corporate- Citizenship-Berichte, die den Nachweis nachhaltigen Wirtschaftens führen und das ökologische und soziale Engagement belegen sollen, haben Konjunktur. Ein Anfang, immerhin.

Moralverletzungen empören 
Die Frage, mit der sich Unternehmen heute zunehmend konfrontiert sehen, ist die nach der Legitimität ihres Handelns: «Dürft ihr das überhaupt, was ihr tut?» Was nicht verboten ist, ist noch lange nicht erlaubt. Gerade dort, wo nachweislich keine Gesetze verletzt wurden, kann ein Unternehmen unter moralischen Druck geraten. Der Analyse des Artikels muss widersprochen werden: Es sind oft Verletzungen der Moral und nicht rechtliche Regelverstösse, die zu jener gefährlichen Koalition von Massenmedien, Bürgern, zivilgesellschaftlichen Akteuren und Politikern führen, gegen die ein Unternehmen unmöglich ankommen kann. Wer erinnert sich nicht an den Kampf um die Ölplattform Brent Spar, den der Shell-Konzern gegen Greenpeace führte? Die Versenkung der Brent Spar war rechtlich abgestützt und durch verschiedene Expertisen als die ökologisch unschädlichste Entsorgungsvariante bestätigt. Vor allem in Deutschland kam es dennoch zu einem umfassenden Boykott durch Konsumenten. Was Shell damals nicht verstanden hatte, war der Unterschied zwischen legal und legitim. Die empörten Bürger (Konsumenten) fragten sich schon, warum sie selber jeden Joghurtbecher entsorgen sollen, während der Multi Shell die schmutzige und mit Giftstoffen voll geladene Ölplattform einfach ins Meer kippen darf. Die Kaufentscheidung wird zum politischen Akt.

Profitgier als Vorwurf 
Das Swissair-Grounding hat den beiden Grossbanken Credit Suisse und UBS eine ähnliche Lehre erteilt. Als die Swissair mangels Liquidität ihre Flugzeuge am Boden lassen musste, traf die Wut der Bürger die Geldgeber der Airline. Zu Tausenden kündigten sie ihre Konten und transferierten ihr Geld zu den Kantonalbanken. Der CEO der UBS, Marcel Ospel, brachte an einer Pressekonferenz nach dem Swissair-Grounding kein Wort des Bedauerns über seine Lippen, behauptete sogar: «Wir haben eine ausserordentliche Leistung vollbracht.» Dabei hatte der Swissair-Chef Mario Corti zuvor die Banken des Komplotts bezichtigt. Es mag ja durchaus sein, dass die Banken tatsächlich keine Schuld traf. Entscheidend ist jedoch, dass die empörte Schweizer Öffentlichkeit davon ausging, dass UBS und CS das Grounding bewusst herbeigeführt hatten. Profitgier war damals der Vorwurf, und Profitgier ist auch im Fall Barnevik wieder der Vorwurf.

Notwendig sind moralische Antworten 
Der erwähnte NZZ-Artikel hat Recht mit seiner Einschätzung, dass die Moral Sache des Publikums ist. In der Öffentlichkeit werden moralische Fragen diskutiert. Das Publikum zwingt Unternehmen in einen moralischen Diskurs und verlangt Antworten. Wohlgemerkt: moralische Antworten, nicht rechtliche oder ökonomische. Die Auszahlung der 148 Mio. Fr. an Percy Barnevik mag legal sein, sie wird in der Öffentlichkeit jedoch als illegitim betrachtet.

Die auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Beispiele ABB, Credit Suisse / UBS und Shell machen eines deutlich: Die Akzeptanz in der Gesellschaft ist heute für Unternehmen keine Selbstverständlichkeit mehr. Der Nachweis der unternehmerischen Integrität muss geführt werden, und dies geht über das Einhalten von Gesetzen hinaus. Unter sozial und ökologisch akzeptablen Bedingungen sollen Gewinne erzielt werden. Unternehmen müssen ihre Werte nicht nur formulieren, sondern deren Umsetzung transparent und glaubwürdig praktizieren. Vertrauen zwischen dem Unternehmen und seinen externen Anspruchsgruppen entsteht nicht zuletzt durch eine sichtbare und nachhaltige Selbstbindung. Wer gegen die öffentlich propagierten eigenen Werte verstösst, wird unglaubwürdig. In den Fokus öffentlicher Empörung zu geraten, kostet Geld und Image. Dabei ist es ein Irrtum, zu glauben, es gehe um wirtschaftliche Argumente auf der einen und um moralische Argumente auf der anderen Seite.

Komplexe Entscheidungssituationen 
Die Wirklichkeit ist viel komplexer, und die geschilderten Fälle beschreiben Entscheidungssituationen, in denen gar nicht so leicht festzustellen ist, wer moralisch im Recht ist. Greenpeace hat sich bei Shell für die Verbreitung von falschen Informationen entschuldigen müssen. Credit Suisse und UBS können möglicherweise auch den Nachweis der eigenen Unschuld führen, und Barnevik nutzte auf geschickte Weise eine offensichtlich legale Möglichkeit, sein Einkommen mit aussergewöhnlichen Zinsen anzulegen. Aber gerade weil man es in den Unternehmen noch nicht verstanden hat, mit der moralischen Dimension von Management-Entscheidungen umzugehen, tappt man immer wieder in dieselbe Falle der Verwechslung von legal und legitim. «Der Chef darf nicht moralisieren», heisst es im Artikel. Dies ist sicherlich nicht ganz falsch. Moralisieren soll er nicht, den richtigen Umgang mit den wachsenden internen und externen moralischen Ansprüchen an seinen Job muss er allerdings schon lernen. Und den Nachweis der unternehmerischen Integrität führt man nicht über die Druckqualität von Leitbildbroschüren und Corporate-Citizenship- Berichten. Moral und Management sind offensichtlich heute enger miteinander verwoben, als es manchem Entscheidenden lieb sein mag.

* Guido Palazzo ist geschäftsführender Gesellschafter im Beratungsunternehmen Management Manufaktur AG in Sarnen.